Teilkorpus ‘Wiener Moderne’: Texte aus der Zeit der ‘Wiener Moderne’, in denen Gender-Diversität eine Rolle spielt oder: ein Weg zum ‘Traumkorpus’
Wie komme ich zu einem Textkorpus, das sich für eine Fallstudie mit DH-Fokus eignet? Neben der Zusammenarbeit mit Bibliotheken und euch führt der Weg zum ‘Traumkorpus’ auch bei uns über die Recherche in literaturwissenschaftlicher Sekundärliteratur. Wie ein Teilkorpus mit potenziell relevanten Texten aufgebaut werden kann, beschreiben wir in diesem Blogpost.
Ausgerechnet Wien?
Der Bruch mit normierten Geschlechterrollen wurde natürlich schon vor den 1950er Jahren literarisch aufbereitet. Ein gutes Beispiel für einen veränderten Umgang mit Geschlechteridentitäten und Genderaspekten stellt die Literatur der sog. Wiener Moderne dar. Der Begriff Wiener Moderne ist ein literarhistorischer Epochenbegriff für den Zeitraum zwischen 1890 und 1910 (vgl. Beßlich und Fossaluzza 2019). Damit gemeint, ist eine in und um Wien formierte “poetisch innovative Gruppe österreichischer Schriftsteller, die die Überwindung des Naturalismus in der deutschsprachigen Literatur etablieren” (Beßlich und Fossaluzza 2019:1). In diesem Zusammenhang bezeichnet das “Junge Wien” einen eher lose verbundenen und in dieser Zeit sehr produktiven Dichterzirkel, dessen literarische Produktionen um Themen wie das menschliche Seelenleben und die menschliche Sexualität kreisen. Dabei wurde die literarische Produktion erheblich von der Psychologie, insbesondere der in diesem Zeitraum bekannt gewordenen Psychoanalyse von Sigmund Freud, beeinflusst (vgl Lorenz 2007: 121). Die Wiener Moderne zeichnet also u.a. ein Fokus auf den Gefühlshaushalt, die menschliche Psychologie und Sexualität aus. Im Rahmen von DisKo sind die Texte aus dieser Epoche von Interesse, da im Zuge dieser ‘Wende nach innen’ auch zuvor als typisch männlich oder typisch weibliche Rollenmodelle in den literarischen Texten der “Jungen Wiener” hinterfragt und relativ starr definierte Grenzen der Geschlechteridentitäten überschritten werden. In literarischen Texten aus dieser Zeit finden sich immer mehr “«weibische» Männer und «unweibische» Frauen” (Schwarz 2012: 10).
Von der Sekundärliteratur zum Korpus
Grund genug, um hier mal etwas genauer hinzuschauen, auch wenn der Zeitraum für unser Diversitäts-Korpus nicht ganz passt. Hier zeigt sich exemplarisch, wie die Suche nach passenden Werken für ein Korpus (egal welcher Art) über die Recherche in literaturwissenschaftlicher Sekundärliteratur funktionieren kann. Dabei handelt es sich um eine Methode der Korpuserstellung, die in der Literaturwissenschaft eine lange Tradition hat. Eine andere Möglichkeit der Korpuserstellung wäre bspw. eine zufällige Auswahl aus der fast 500.000 Einträge umfassenden Tabelle der DNB – aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Blogpost.
Leitend bei der auf Forschungsliteratur aufbauenden Korpuserstellung sind in unserem Fall Fragen wie: In welcher Zeit richtet sich die literarische Produktion explizit und besonders eingängig auf die Psyche und Sexualität des Menschen? Gibt es gesellschaftliche Umwälzungen, die einen anderen Umgang mit Geschlechteridentitäten mit sich bringen, der dann auch in der Literatur Niederschlag fand? Welche Primärwerke werden in Monographien mit einem entsprechenden thematischen Fokus erwähnt? Das haben wir beispielhaft mal mit der oben bereits zitierte Monographie von André Schwarz gemacht. Hier finden sich tolle Einzelfallstudien zu unterschiedlichen Texten der Wiener Moderne, die potenziell auch für DisKo interessant sind. Die “Ausbeute”, die wir uns im nächsten Schritt genauer anschauen können, beinhaltet die folgenden Werke:
- Richard Beer-Hofmann (1900): Der Tod Georgs. Roman
- Richard Beer-Hofmann (1904): Der Graf von Charolais: ein Trauerspiel und andere dramatische Entwürfe
- Leopold Andrian (1895): Der Garten der Erkenntnis (Erzählung)
- Felix Salten (1902): Die kleine Veronika
- Felix Salten (1905.): Bekenntnisse einer Prinzessin
- Felix Salten (1906): Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt (Roman)
- Felix Salten (1911): Wurstelprater
- Arthur Schnitzler (1891): Die Braut (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1891): Das Märchen (Drama)
- Arthur Schnitzler (1894): Die überspannte Person (Einakter)
- Arthur Schnitzler (1896): Liebelei (Drama)
- Arthur Schnitzler (1896/97): Reigen (Drama)
- Arthur Schnitzler (1900): Der blinde Geronimo und sein Bruder (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1900): Frau Berta Garlan (Roman)
- Arthur Schnitzler (1900): Leutnant Gustl (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1907): Der Weg ins Freie (Roman)
- Arthur Schnitzler (1912-17): Flucht in die Finsternis (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1913): Frau Beate und ihr Sohn (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1915): Die Stunde des Erkennens (Teil der Einakterfolge Komödie der Worte)
- Arthur Schnitzler (1917): Doktor Gräsler, Badearzt (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1918): Casanovas Heimfahrt (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (o.J.): Süßes Mädel. Eine bisher unveröffentlichte Anatol-Szene
- Arthur Schnitzler (1926): Spiel im Morgengrauen (Erzählung)
- Arthur Schnitzler (1926): Traumnovelle
- Hugo von Hofmannsthal (1897): Die Frau am Fenster (Drama)
- Hugo von Hofmannsthal (1891): Age of Innocence. Kreuzwege. (Erzählung)
- Hugo von Hofmannsthal (o.J.): Das Glück am Weg (Erzählung)
- Hugo von Hofmannsthal (1904): Elektra. Tragödie (Drama)
Literatur
Beßlich, Barbara und Cristina Fossaluzza (2019): “Einleitung”. In: dies. (Hg.): Kulturkritik der Wiener Moderne (1890-1928). Heidelberg: Winter.
Lorenz, Dagmar (2007): Wiener Moderne. Stuttgart: Metzler.
Schwarz, André (2012): Lustvolles Verschweigen und Enthüllen. Eine Poetik der Darstellung sexuellen Handelns in der Literatur der Wiener Moderne.