Einzeltextanalysen

Sheridan le Fanus “Carmilla”: Weiblicher Vampir sucht weibliche Opfer

Nachdem wir euch letzten Monat mit Balzacs Sarrasine einen richtigen Klassiker der ungewöhnlichen Gender-Darstellungen vorgestellt haben, präsentieren wir diese Woche einen weniger bekannten Text. Nach diesem irischen Kleinod der Vampirliteratur mussten wir regelrecht eine Zeit lang suchen, bevor wir es in unser Diversitäts-Korpus DisKo einfügen konnten. Doch schließlich fanden wir den Volltext einer deutschen Übersetzung in der Vampyrbibliothek. Wer hätte gedacht, dass ein so früher Text einen weiblichen Vampir zur Protagonistin hat? 1872 erschienen, war LeFanus Carmilla Vorreiter und Vorbild für andere Klassiker der Horrorliteratur wie z.B. Bram Stokers Dracula (vgl. Čizmar 2023, 281, Maia 2020, 38, vgl. Leal 2007, 44). Für uns vom m*w-Projekt ist aber nicht nur die Tatsache interessant, dass es sich bei Carmilla um eine Vampirin handelt, sondern auch, dass diese sich ausschließlich weibliche Opfer sucht. Mit dieser literarischen Verarbeitung weiblicher Homosexualität ist diese Erzählung auch ein Beispiel für queere Literatur. In diesem Falle in Form einer mehr als 150 Jahre alten Geschichte, die allerdings auch heute noch zu den gut lesbaren Grusel-Klassikern gehört. 

Die Geschichte

Die Ich-Erzählerin Laura lebt mit ihrem Vater in einem etwas abgelegenen Anwesen; sie gehören zu einer gut angesehenen Familie. Eines Tages hat eine Kutsche nicht weit von diesem Anwesen einen Unfall. Die Tochter der Reisenden fällt hinaus und verletzt sich. Da die Reise schnell weitergehen muss, lässt die Mutter die junge Frau kurzerhand zurück. Das passt gut, denn Laura hatte eigentlich gerade ihre Cousine als Gesellschaftsdame erwartet, die allerdings aufgrund einer rätselhaften Krankheit absagen musste. Stattdessen trifft sie auf die zurückgelassene Tochter. Die beiden jungen Frauen freunden sich schnell an und werden die besten Freundinnen. Merkwürdig ist nur, dass in der Gegend andere junge Mädchen an einer seltsamen Krankheit sterben. Schließlich erkrankt auch die Ich-Erzählerin. Sie berichtet von nächtlichen Begegnungen mit einer Katze und einem stechenden Gefühl nah am Hals. Ein Arzt wird gerufen, der Vampirismus vermutet und versucht, die Befallene durch eine Therapie zu retten. Allerdings dürfen natürlich nicht nur die Symptome bekämpft werden, auch der Vampir muss ausfindig und unschädlich gemacht werden.

Die Figuren

Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die Ich-Erzählerin Laura und ihre Freundin Carmilla. Naja, eigentlich steht vor allem die Letztgenannte im Zentrum. Um das zu erkennen, haben wir im kompletten Text Bezeichnungen markiert, die genutzt werden, um die Figuren zu benennen. Vor allem geht es uns darum, Informationen über das Gender der Figuren zu bekommen. Darum konzentrieren wir uns auf Nomen, wie ‘Tochter’, ‘Fräulein’ oder ‚Freundin‘, mit denen die Figuren referenziert werden. Indem wir diese Nomen mit den Figuren verbinden, die sie bezeichnen, entstehen Netzwerke, die auch zeigen, welche Figuren mit denselben Nomen bezeichnet werden. Diese Netzwerkdaten zeigen deutlich, dass Carmilla mit den meisten unterschiedlichen Nomen referenziert wird. Es zeigt sich hier deutlich ein Profil, in dem angelegt ist, wer bzw. was sie ist. Schauen wir uns die Gender-Informationen an, die in den für die Figurencharakterisierung verwendeten Ausdrücken stecken, so fällt auf, dass bei Carmilla neben weiblichen und neutralen auch vier männliche Bezeichnungen vorkommen. 

Das Rollenprofil von Ich-Erzählerin Laura

Die Ich-Erzählerin wird überwiegend mit weiblichen, manchmal mit neutralen und nur ein einziges Mal mit einem männlichen Ausdruck bezeichnet (‘Taucher’, vgl. Abb. 1). Um genau zu sein, handelt es sich bei der Referenz mit einem männlichen Ausdruck auch lediglich um einen Vergleich: “Ich sehe alles vor mir, so, wie ein Taucher das, was über ihm vor sich geht, sieht” (LeFanu 1872), stellt Ich-Erzählerin Laura fest. Insgesamt wird die Erzählerin in 53,85% mit weiblichen Ausdrücken bezeichnet, in 38,46% mit neutralen und in 7,69% mit männlichen. Diese Figur kann also eindeutig als weiblich identifiziert werden, da es in ihrem Profil eine absolute Mehrheit weiblicher Ausdrücke gibt.

Das Rollenprofil von Vampirin Carmilla

Wie sieht das bei Carmilla aus? Insgesamt sind im Profil dieser Figur 45 Ausdrücke, also mehr als 3x so viele wie bei der Erzählerin. Von diesen 45 Ausdrücken sind 48,88% weiblich, 42,22% sind neutral und 8,88% sind männlich. Wie wir sehen, gibt es hier keine absolute Mehrheit weiblicher Ausdrücke mehr, sondern nur eine einfache. Ein großer Anteil der zur Figurendarstellung genutzten Nomen ist neutral. Zwar sind die 8,88% männliche Ausdrücke prozentual nicht viel mehr als die 7,69% im Profil der Erzählerin, allerdings spielt hier auch die absolute Zahl eine Rolle. Dass eine weibliche Figur im Verlauf einer Erzählung auch mal mit einem männlichen Ausdruck bezeichnet wird, kommt relativ häufig vor. Dass es aber mehr als zwei männliche Ausdrücke in einem Figuren-Profil mit einer Mehrheit weiblicher Bezeichnungen gibt, ist eher ungewöhnlich. Zwar kann Carmilla ebenfalls als weiblich gelesen werden, aber in der Darstellung dieser Figur gibt es eindeutig einen Bruch, der mit der Gender-Identität zu tun hat.

Abb. 1: Ego-Netzwerke der beiden zentralen Figuren Laura (Ich-Erzählerin) und Carmilla; rot steht für männliche, blau für neutrale und grün für weibliche Referenz-Ausdrücke.

Das Netzwerk der Gender-Rollen

Schaut man sich nun ein Netzwerk aller Figuren und der sie bezeichnenden Ausdrücke an, so wird zuerst einmal deutlich, dass die titelgebende Figur Carmilla die Figur mit dem komplexesten Profil ist (vgl. Abb. 2). Es zeigt sich aber noch etwas: das männliche und das weibliche Areal in diesem Netzwerk sind recht deutlich voneinander getrennt. Die weiblichen Figuren – Laura, Carmilla, die Comtesse und Bertha – erscheinen zentraler. Die männlichen Figuren – Lauras Vater, der Arzt und der Oberst – erscheinen randständiger, was dadurch kommt, dass sie mit viel weniger Ausdrücken referenziert werden. Der Vater der Erzählerin ist beispielsweise hauptsächlich ‘Vater’, ‘Herr’ des Anwesens und ‘Freund’ des Generals Spielsdorf, dessen Tochter die Erzählerin zu Beginn der Geschichte nicht besuchen konnte, da sie – wie sich später herausstellt – ebenfalls vom Vampirismus Carmillas betroffen war. Diese Rollen verorten die Figur vorrangig in einem familiären Setting und definieren ihren sozialen Einfluss (als Freund und Hausherr) und sind dadurch wichtig für das Funktionieren der Handlung. Sie geben der Vater-Figur aber nur wenig eigenen Charakter. In Bezug auf Gender ist noch etwas interessant: Die männlichen Ausdrücke in Carmillas Profil verbinden sie nicht mit den männlichen Figuren der Erzählung. Sie beziehen sich entweder auf ihr bedrohliches, unmenschliches Wesen als ‘Vampir’ oder auf ihr Begehren, das sie zum ‘Bewunderer’ und ‘Liebhaber’ anderer weiblicher Figuren macht. Carmilla ist eindeutig Teil der weiblichen Sphäre des Netzwerkes und doch ist sie anders. Sie steht nicht zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, sie ist eine ungewöhnliche, dämonisierte Frauenfigur. 

Abb. 2: Netzwerk von Figuren und ihren Gender-Zuweisungen in LeFanus Erzählung Carmilla (farbliche Codierung wie in Abb. 1)

Literaturwissenschaftliche Einordnung

Der Vampir ist bis heute ein beliebter Typ literarischer Figuren und gehört seit Jahrhunderten vor allem zum Arsenal des Horror-Genres. Schon in der viktorianischen Ära, in der auch LeFanus Erzählung Carmilla entstand, waren Vampire als Untote Grenzgänger zwischen Akzeptanz und Überwindung des Todes (vgl. Čizmar 2023, 276). Unterschwellig stellen sie aber auch die herrschende Ordnung in Frage, vor allem in Bezug auf moralische Normen (ebd.). Literarische Vampire brechen mit konventionellen Genderrollen schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts (z.B. Polidoris The Vampyre von 1819 oder E.T.A. Hoffmanns Vampirismus von 1821) und tun dies noch heute (z.B. in Meyers Twilight, in dem die Vampire nicht nur androgyne Züge, sondern auch glitzernde Haut haben von 2006). Auch ist LeFanus Carmilla keinesfalls die erste Erzählung, in der eine Vampirin die Hauptrolle spielt (auch wenn dies von Maia (2020, 41) behauptet wird). Bereits 51 Jahre zuvor lebt E.T.A. Hoffmanns schauerromantische Aurelie in der Vampirismus-Erzählung aus den Serapions-Brüdern heimlich ihren Vampirismus aus. Auch eine Vampirin mit einem weiblichen Opfer kannte die Literaturgeschichte schon vor Carmilla. Die Ballade Christabel von Coleridge (1797) zeichnet ein solches Szenario (vgl. Leal 2007, 39). Und doch finden wir bis heute nur wenige Figuren in Erzähltexten, die Carmilla als Vampirin, die sich ausschließlich weibliche Opfer sucht, ähneln. Eine Besonderheit von Carmilla ist nämlich auch, dass sie Opfer bevorzugt, die über die weibliche Blutlinie mit ihr verwandt sind (vgl. Leal 2007, 37-38). Zwar labt sie sich auch an jungen Bäuerinnen, baut aber keine Beziehung zu ihnen auf (vgl. Leal 2007, 43) wie erst zu Bertha, der Tochter von General Spieldorf, und später zu deren Cousine Laura. Vampirismus, Homosexualität und Inzest werden hier verwoben (vgl. Leal 2007, 45). Auch unser Netzwerk in Abb. 2 zeigt die enge Verbindung Carmillas mit weiblichen Verwandten. Vor allem Bertha und Laura stehen ihr nah und sind über Referenzen verbunden, die direkt ihre Beziehung zueinander ausdrücken wie ‘Freundin’ oder ‘Liebling’ oder auch ‘Liebste’. Auch mit der Figur “la Comtesse”, die als ihre Mutter in Erscheinung tritt, ist Carmilla verbunden. Beide sind ‚Begleiterin‘, beide sind ‘Damen’ und zu Beginn sind sie auch ‘Insassinnen’ derselben Kutsche. Mit der Tochter des Waldhüters, die eines ihrer Nebenopfer ist, verbindet Carmilla hingegen nur, dass sie beide ‘Mädchen’ sind. 

Onomastische Analyse von Carmilla

In einer onomastischen, d.h. an den Namen der Figuren orientierten Analyse, zeigt Leal (2007), was auch in unseren Netzwerkdaten ganz deutlich hervor tritt: Die weiblichen Figuren, allen voran Carmilla, werden mit vielen Namen bzw. Ausdrücken belegt, während es für die männlichen nicht genug Namen und Bezeichnungen gibt, um ein individuelles Profil zu entwickeln (vgl. Leal 2007, 38). Carmilla nutzt eine ganze Reihe von annagrammatischen Namen, was gut zu ihren formwandlerischen Fähigkeiten passt (Leal 2007, 40). Sie heißt in der Geschichte sowohl Millarca als auch Marcella. Den Nachnamen ‘von Karnstein’ teilt sie mit Lauras Mutter, was die Verwandtschaft über die mütterliche Blutlinie bestätigt. Die Männerfiguren bleiben dagegen flach und zum Teil gänzlich namenlos. General Spieldorf und Doktor Spielsberg tragen nahezu denselben Namen. Der Name des Vaters bleibt ungenannt. Unser Netzwerk zeigt außerdem, dass die Referenzen auf Männerfiguren oft über Titel hergestellt werden. Doktor Spielsberg wird auch als ‘Doktor’, General Spielsdorf und Baron Vordenburg als ‘Baron’ referenziert. Was allerdings all diese Figuren verbindet, sind die Bezeichnung als ‘Mann’ und als ‘Herr’. In ihrer Eigenschaft als Männer und Herren sind sie es auch, die am Ende – zumindest scheinbar – die patriarchale Ordnung wieder herstellen (Čizmar 2023, 283). Unklar bleibt jedoch, wie nachhaltig das Ende Carmillas ist. Auch nach deren Tod erhält Laura die Erinnerung an die Freundin aufrecht und ebenso wie die Erinnerung bleibt auch das homoerotische Begehren, das die beiden Freundinnen verband (Čizmar 2023, 284).

Ambiguität als Leitprinzip der literaturwissenschaftlichen Analysen von Carmilla

Als Vampirin mit lesbischen Tendenzen geht von Carmilla eine doppelte Bedrohung aus. Einerseits greift sie ganz unmittelbar die Familie an, indem sie sich an den Töchtern vergreift (vgl. Čizmar 2023, 282). Auf der anderen Seite stellt sie das streng binäre patriarchale Gendersystem in Frage (vgl. Čizmar 2023, 282, Maia 2020, 41). Ja, die Vampirin Carmilla scheint sogar eine Bedrohung für die Maskulinität allgemein zu sein (vgl. Maia 2020, 43). Ebenso wie weibliche Homosexualität als codifiziertes Doppelsystem von Liebe und Hass, Begehren und Ablehnung, Verbot und Erwünschtsein dargestellt wird (vgl. Maia 2020, 42), schwankt sie auch zwischen weiblichen und männlichen Zuschreibungen. In unseren Rollen-Profilen zeigt sich diese Codierung ganz deutlich. Zu Carmilla gehört, dass sie sowohl als ‘Liebste’ als auch als ‘Liebhaber’ bezeichnet wird, als ‘Dämon’ und ‘Gefährtin’, ‘Bewunderer’ und ‘Vermißte’, ‘Vampir’ und ‘Christin’. Carmilla ist keinesfalls eine Repräsentation von “allem, was eine Frau nicht sein sollte”, wie Maia (2020, 44) feststellt. Sie nimmt sowohl gesellschaftlich akzeptierte und sogar befürwortete Rollen (neben den bereits genannten auch ‘Tochter’, ‘Dame’ oder sogar ‘Komteß’, was einen hohen gesellschaftlichen Rang impliziert), als auch dämonisch-monströse (‘Dämon’, ‘Vampir’), als auch für Männer sehr wohl akzeptierte (‘Bewunderer’, ‘Liebhaber’) ein. Darüber hinaus wird weder Carmilla noch Laura als passives Opfer des Vampirismus dargestellt. Beide sind aktiver Teil der Verführung (vgl. Čizmar 2023, 283) und weder Carmilla noch Laura scheinen am Ende der Erzählung erlöst zu sein. Die Ambiguität der Erzählung Carmilla als Leitprinzip bisheriger literaturwissenschaftlicher Studien (vgl. Čizmar 2023, 281, Maia 2020, 42, Leal 2007, 37) zeigt sich also ganz deutlich auch in unserer datengetriebenen Analyse.

Literatur

Čizmar, S. (2023) ‘“Atrocious Lusts”: The Vampire and Transgressive Sexuality in Polidori, Le Fanu, and Rice’, Belgrade English Language and Literature Studies, 15(1), pp. 275–289. Available at: https://doi.org/10.18485/bells.2023.15.14.

LeFanu (1872) “Carmilla”. http://www.vampyrbibliothek.de/vampyrbibliothek2.htm [zuletzt geprüft am 22.12.2024].

Leal, A. (2007) ‘Unnameable Desires in Le Fanu’s Carmilla’, Names, 55(1), pp. 37–52. Available at: https://doi.org/10.1179/nam.2007.55.1.37.Maia, M.M.M. (2020) ‘VAMPIRISM AND LESBIANISM IN CARMILLA BY JOSEPH SHERIDAN LE FANU’, European Journal of Literature, Language and Linguistics Studies, 3(4). Available at: https://oapub.org/lit/index.php/EJLLL/article/view/154 (Accessed: 2 December 2024).

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