Analyse von Genderstereotypen

Literarischer Klassiker der ungewöhnlichen Gender-Darstellungen: Balzacs Sarrasine

Wenn wir gendersensible Perspektiven in die (digitalen) Literaturwissenschaften und auch in den Literaturunterricht einbringen wollen, brauchen wir dafür vor allem eines: Texte, in denen ungewöhnliche Darstellungen von Gender eine Rolle spielen. Für unser Diversitätskorpus DisKo sammeln wir solche Texte. Einen Überblick über alle Titel, die wir bisher zusammengetragen haben, findest du hier. In Ergänzung zu diesem Gesamtüberblick möchten wir auch ausgewählte Texte detaillierter vorstellen. Darum beschreiben wir hier in kurzen Beiträgen Geschichten, Hauptfiguren und natürlich vor allem Gender-Profile von Figuren aus diesen einzelnen Texten. Heute starten wir mit einem Klassiker, der häufig Erwähnung findet, wenn es um literarische Brüche mit herkömmlichen Gender-Kategorien geht (vgl. u.a. Barthes 1974, Rißler-Pipka 2005, Bolschweiler 2021).

Die Geschichte

Die Geschichte “Sarrasine” dreht sich um einen älteren Mann von leicht gruseligem Aussehen, der auf seltsame Weise von seinem Umfeld sehr verehrt wird. Die Erzählung führt uns jedoch zurück in die früheren Lebensjahre dieser Persönlichkeit. Einst traf der Protagonist Sarrasine als junger Mann die bezaubernde Sängerin Zambinella. Er verliebt sich unsterblich in die junge Frau, folgt ihr zu Auftritten und Gesellschaften. Nach und nach wird allerdings deutlich, dass etwas an dieser Verliebtheit in Sarrasines Umfeld für große Erheiterung sorgt. Schließlich findet ein Gender-Reveal statt: Zambinella kam als Mann zur Welt, singt und spielt als Kastrat auf der Bühne allerdings Frauenrollen. Zambinella erreicht mit der Gesangskunst einen derart großen Erfolg, dass selbst der alte Mann, zu dem sie später wurde, sich noch an diesem Ruhm laben kann. 

Die Figuren

Um Profile zu erstellen, die Aufschluss über das Gender der Figuren geben, haben wir im Projekt m*w alle Ausdrücke markiert, die eine Figur bezeichnen und Gender-Informationen enthalten. Im Anschluss haben wir diese Ausdrücke mit den Figuren verbunden, die damit bezeichnet werden. Auf diese Weise entsteht ein Figuren-Gender-Netzwerk des Erzähltextes. Mithilfe einer Netzwerkanalyse-Software wie Gephi (Bastian et al. 2009) kann dann für jede Figur ein Ego-Netzwerk erstellt werden, das anzeigt, mit welchen gegenderten Ausdrücken sie bezeichnet wird.

Der Protagonist Sarassine

Bei der Betrachtung der Genderprofile beider Protagonisten in Abb. 1 wird im Verlaufe der Geschichte schnell deutlich, dass es sich bei Sarrasine eindeutig um eine männliche Figur handelt. Das Profil der Zambinella ist hingegen von Rollen unterschiedlicher Kategorien gekennzeichnet. Obwohl es einige neutrale Ausdrücke wie ‚Person‘ oder ‚Mensch‘ gibt, sind die meisten Ausdrücke, die Sarrasine bezeichnen, eindeutig männlich. Es ist jedoch anzumerken, dass die Figur an einer Stelle im Text auch mit weiblichen Attributen dargestellt wird. Es heißt dort, ‚er schmückte sich wie ein junges Mädchen, das vor ihrem ersten Liebhaber parodieren soll.‘ (Balzac 1830). Eine Analyse der Verteilung dieser Geschlechterbezeichnungen und der Ego-Netzwerke zeigt insgesamt, dass Sarrasine in 67,66% der Fälle mit männlichen Ausdrücken bezeichnet wird, in 20% der Fälle mit neutralen Ausdrücken und nur in 3,33% der Fälle mit weiblichen Ausdrücken. Diese Daten zeigen, dass eine deutliche Mehrheit – etwa zwei Drittel – auf eine männliche Geschlechtsidentität hinweist.

Die Zambinella

Bei Zambinella zeigt sich ein anderes Bild. Zunächst einmal wird diese Figur im ersten Teil der Erzählung meist als ‘der Alte’ oder ‘der Unbekannte’ bezeichnet. In der Binnenerzählung ist dann fast ausschließlich von ‘Zambinella’ die Rede. Da Zambinella die einzige namentliche Bezeichnung für die Figur ist, haben wir diese ins Netzwerk übernommen und wird als Unique Identifier, also als eindeutige Bezeichnung für diese Figur verwendet (obwohl es sich bei der Bezeichnung nicht unbedingt um den tatsächlichen Namen handeln muss). Das Gender-Profil von Zambinella zeigt 47,37% männliche Referenzen, 26,32% neutrale und 26,32% weibliche. Auch hier gibt es zwar eine Mehrheit männlicher Bezeichnungen, diese überschreitet allerdings nicht die 50%-Marke und ist darum keine absolute, sondern nur eine einfache Mehrheit. Die Figur wird in Bezug auf Gender eindeutig abweichend von einer klaren Binärzuordnung dargestellt. Im Hinblick auf die Verteilung der Genderrollen tritt hier an die Stelle von „entweder oder” ein klares “sowohl als auch”. Es verwundert also nicht im geringsten, dass die Balzac’sche Erzählung häufig als Beispiel für ungewöhnliche Genderdarstellungen genannt wird.

Abb. 1: Ego-Netzwerke der beiden zentralen Figuren Sarrasine und Zambinella; rot steht für männliche, blau für neutrale und grün für weibliche Referenz-Ausdrücke.

Das Netzwerk der Gender-Rollen

Auch ein Blick auf das gesamte Netzwerk ist in Sachen Genderdarstellung aufschlussreich. In Abb. 2 ist der Kern eines Netzwerkes zu sehen, der aus Figuren des Erzähltextes und den ihnen zugeschriebenen gegenderten Ausdrücken besteht. Figuren erscheinen immer dann besonders nah beieinander, wenn sie mit denselben Ausdrücken bezeichnet werden. Werden z.B. zwei Figuren ‘Mutter’ genannt, so gibt es zwischen ihnen eine Verbindung der Ähnlichkeit über diese Rolle. Dadurch zeigt sich eine Gendersphäre der Geschichte, in der sich immer dann eindeutige Pole bilden, wenn Figuren viele Rollen teilen. Für die Erzählung “Sarrasine ergeben sich recht eindeutige männliche und weibliche Areale im Netzwerk. Die Figur der Zambinella, die sich auf Abb. 2  am rechten Rande befindet, ist auf der weiblichen Seite positioniert. Sie zeigt mehr Ähnlichkeiten in der Darstellung zu anderen weiblichen Figuren des Textes als zu anderen männlichen Figuren. Insgesamt handelt es sich aber um eine uneindeutige Figur, die ein Darstellungsmuster zeigt, das sie klar von binär charakterisierten Figuren unterscheidet.

Abb. 2: Netzwerk von Figuren und ihren Gender-Zuweisungen in Balzacs Erzählung Sarrasine (farbliche Codierung wie in Abb. 1)

Literaturwissenschaftliche Einordnung

Im Jahr 1830 ist die Erzählung “Sarrasine” zum ersten Mal veröffentlicht worden. Rund 120 Jahre später stellte Simone de Beauvoir fest, dass Frauen nicht als solche geboren, sondern dazu gemacht werden (de Beauvoir 1949; 1992). Nochmal rund 40 Jahre später geht es in Judith Butlers Unbehagen der Geschlechter um die sozio-kulturelle Konstruktion von Geschlecht und die Trennung von Geschlecht, Gender-Performanz und Gender-Identität. Balzac greife mit seiner Erzählung “Sarrasine dieser sex/gender-Debatte vor, so Rißler-Pipka (2005, 138). Zambinella befinde sich nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern sei “die scheinbar perfekte Vereinigung beider Geschlechter” (ebd.). 

Zambinella als soziale, der Alte als isolierte Figur

Die Netzwerke belegen, was auch Barthes (1974) in seiner Analyse S/Z nahelegt. Es geht hier nicht nur darum, zwischen zwei Genderkategorien zu wandeln. Zambinella wird ebenso häufig mit neutralen Bezeichnungen belegt wie mit weiblichen. Die Möglichkeit der Neutralität in Bezug auf Gender spielt also auch eine nicht unwesentliche Rolle. Das Neutrale sei das eigentliche Gender des Kastraten, so sieht es zumindest Barthes (1974, 54). Er entwirft eine Genderstruktur, die zwei oppositionelle Pole, die Mischform und das Neutrale (Barthes 1974, 35) umfasst. Gleichzeitig erläutert Barthes, dass Zambinella zur Verkörperung der perfekten Frau, der Super-Frau wird, die dennoch unterschwellig der defizitäre, kastrierte Mann bleibe (Barthes 1974, 72). Die Daten spiegeln dieses Bild: Die männlichen Rollen, mit denen Zambinella bezeichnet wird, verbinden die Figur nur selten mit anderen Männern. Sie wird als “Geisteskranker”, “Vampir”, “Paralytiker”, „Hundertjähriger“ und “Männchen” bezeichnet. Als „Frau”, “Mädchen”, “Primadonna” oder “Geliebte” (weiblich) oder als “Mensch”, “Wesen”, “Geschöpf” oder auch “Gestalt” (neutral) bezeichnet zu werden, verbindet sie mit anderen Figuren. Als Mann wirkt “der Alte” sozial isoliert und andersartig, als neutrale Persönlichkeit oder Frau geht Zambinella in der Gemeinschaft auf. 

Gender-Diversität als multiple narrative Identität

Die narrative Identität einer solchen Figur ist mindestens zwei, vielleicht sogar mehrdeutig (vgl. Bolschweiler 2021). Es gäbe keine „Wahrheit“ am Kern dieser Novelle, sondern eben nur diese unauflösbare Mehrdeutigkeit und genau darin liege auch das queere Potential der Figur: Gender-Identität ist hier pluralisitisch (Bolschweiler 2021, 9). Zambinellas geschlechtliche Identität erhalte bis zum Schluss keinen Namen, sodass sich auf sprachlicher Ebene keine Fixierung ergibt – diese These Bolschweilers (2021, 10) stützen auch unsere Netzwerk-Daten. Es gibt hier keinen Ausdruck, der direkt auf Gender-Diversität schließen lässt, nicht einmal das Wort „Kastrat“ ist Teil des Rollenprofils der Figur. Die Tatsache, dass es sich bei Zambinella um einen solchen handelt, zeigt sich im Text implizit in einer Frage: „Wissen Sie denn nicht, von was für Geschöpfen die Frauenrollen im Kirchenstaate gespielt werden?“ (Balzac 1830). Der neutrale Ausdruck ‘Geschöpf’ zusammen mit dem kollektiven Wissen um die kulturelle Praxis zeigt, wie die eindeutige Benennung vermieden und verschleiert wird. Statt der Eindeutigkeit ist die (interpretationsbedürftige) Vielfalt der herkömmlichen Rollen (der drei Kategorien männlich, weiblich und neutral) entscheidend. 

Literatur

Barthes, R. (1974) S/Z. Oxford: Blackwell Publishing Professional. Available at: https://www.academia.edu/8331536/Roland_Barthes_S_Z (Accessed: 29 November 2024).

Bastian, M., Heymann, S. and Jacomy, M. (2009) ‘Gephi : An Open Source Software for Exploring and Manipulating Networks’, p. 2.

Beauvoir, S. de (1949; 1992) Das andere Geschlecht Sitte und Sexus der Frau. Neuübers. Rowohlt-Taschenbuch-Verl. (Rororo: rororo-Sachbuch).

Bollschweiler, P. (2021) ‘Queer(ness) erzählen. Wie Virginia Woolf und Honoré de Balzac queere Figuren ‚avant la lettre‘ erschufen’, IZGOnZeit. Onlinezeitschrift des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZG), pp. 5–20. Available at: https://doi.org/10.11576/izgonzeit-4690.

Butler, J. (2003) Das Unbehagen der Geschlechter. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp: Gender studies: Vom Unterschied der Geschlechter).
Rißler-Pipka, N. (2005) Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion Beispiele intermedialer Vernetzung von Literatur, Malerei und Film. Fink.

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