Methoden der Digital Humanities,  Projektbeschreibung

Diversität der Gender-Darstellungen in literarischen Texten

In unserem Korpus-Projekt DisKo sammeln wir Titel von literarischen Texten, in denen ungewöhnliche Gender-Darstellungen vorkommen. Über 100 Texte haben wir schon auf unserer Liste verzeichnet. Aber wie genau sehen ungewöhnliche Darstellungen von Gender aus? In was für Geschichten kommen sie vor? Und – eine Frage, die weniger selbsterklärend ist, als sie zunächst wirken mag – wie sehen überhaupt typische Muster der Gender-Darstellung aus? All diesen Fragen, gehen wir im Rahmen von m*w nach und möchten darum mit einer neuen Blogartikelserie von unseren ersten Ergebnissen berichten. Nach und nach stellen wir einzelne Texte vor, zeigen deren Protagonist*innen und natürlich die Genderprofile der ungewöhnlich dargestellten Figuren. Mit diesem Beitrag möchten wir euch aber erst einmal ein wenig über die Methodik berichten, die dahintersteckt. Wir hoffen, euch auf diese Weise ein Grundverständnis für die später folgenden Texte vermitteln zu können.

Methodik

Wir arbeiten grundsätzlich mit digitalen Methoden. Statt einzelne Beispiele zu analysieren, die sich beim sehr genauen Lesen (dem Close Reading) besonders eindrücklich zeigen, verwenden wir Software für die Textanalyse. Auf diese Weise versuchen wir, möglichst alle Wörter oder Phrasen zu erfassen, die auf der Ebene direkter Figurenreferenzen zur Charakterisierung beitragen (Distant Reading) und Muster zu erkennen, die sich erst durch den Blick ‘aus der Distanz’ auf die Darstellung von Genderrollen in größeren Textsammlungen zeigen. Ein wichtiger theoretischer Ansatz, der uns dabei leitet, ist der der Narrative-Identity-These. Dieser von dem Philosophen Paul Ricoeur (1987) entwickelten These nach, trägt alles zur Identität bei, was von einer Person selbst oder von anderen über eine Person erzählt wird.

Wir übertragen dieses Konzept auf Figuren in literarischen Texten. Da wir allerdings nicht alle Aspekte solcher sich mosaikartig zusammensetzenden kleinen Erzählungen über Figuren gleichzeitig betrachten können, konzentrieren wir uns erst einmal auf nominale Referenzen. Das heißt, wir betrachten Nomen, mit denen Figuren bezeichnet werden. Das sind neben deren Namen oft auch Rollenbezeichnungen wie ‘Mutter’ (weiblich), ‘Vater’ (männlich) oder ‘Kind’ (neutral). Nomen bieten sich für unsere Untersuchung geradezu an, weil sie eigentlich immer Informationen über Gender enthalten. 

Muster ungewöhnlicher Gender-Darstellungen

Um Gender-Diversität zu untersuchen, suchen wir neben  Vertretern von Rollenbezeichnungen, die in eine der drei Kategorien weiblich, männlich oder neutral fallen, vor allem nach Rollen, die in die Kategorie ‘divers’ fallen. In historischen Texten begegnen uns Ausdrücke wie ‚Hermaphrodit‘ für intersexuelle Figuren sowie Begriffe wie ‚Eunuch‘, ‚Mischwesen‘, ‚Mannweib‘ oder ‚Weibsmann‘, die wir entsprechend unserem Ansatz als divers klassifizieren. Häufiger als solche expliziten Ausdrücke sind allerdings Muster in Gender-Profilen, die sich dadurch auszeichnen, dass Referenzen der drei anderen Kategorien gemischt vorkommen. Diversität kann also auch jenseits einer direkten nominalen (diversen) Referenz auftreten, bspw. in Form von Figuren, denen männliche und weibliche Rollen zugeschrieben werden. Und da sind wir wieder bei Ricouer: Genderidentitäten und Rollenprofile von Figuren setzten sich mosaikartig zusammen; im Hinblick auf Diversität und non-Binarität erscheint das Verhältnis in dem männliche, weibliche, neutrale und diverse Rollen zueinander stehen, als entscheidender Faktor.

Sichtbarmachung ungewöhnlicher Gender-Darstellungen

Um diese Muster sichtbar zu machen und auch um unsere Betrachtungen in Bezug zu anderen literaturwissenschaftlichen Studien zu setzen, müssen wir für jeden Text drei Schritte durchführen. Zuerst annotieren wir alle nominalen Referenzen auf Figuren, markieren diese also direkt im Text. Dann erstellen wir Netzwerke, die die Figuren, ihre Referenzen und die anderen Figuren im Text miteinander in Bezug setzen. Schließlich betrachten wir unsere Erkenntnisse im Vergleich mit dem, was andere Literaturwissenschaftler:innen zu diesen Texten bereits erforscht haben. In unserer geplanten Blogartikel-Serie schreiben wir pro Text, was bei den einzelnen Schritten herausgekommen ist. Falls bei der Lektüre die Frage aufkommt, wie genau wir noch einmal darauf gekommen sind, so kann jederzeit in diesem Artikel hier nachgelesen werden, was wir gemacht haben. Im Folgenden beschreiben wir das noch einmal konkreter.

Schritt 1: Annotation von Figuren-Referenzen

Derzeit annotieren wir in einem Team von 5-6 Leuten. Wenn du neugierig bist, wer genau dabei ist, schau gerne auf unserer Über-Uns-Seite nach. Jede*r der oder die bei uns annotiert, durchläuft zunächst ein Annotationstraining. Dabei wird nach vorgegebenen Guidelines eine aus unterschiedlichen Texten zusammengesetzte Passage annotiert. Das heißt, dass jede Referenz auf eine Figur mit einer Genderkategorie versehen wird. Die Kategorien, mit denen wir derzeit arbeiten, sind männlich, neutral, weiblich und divers. Das Kategoriensystem beruht auf Ansätzen von Simone de Beauvoir (1949; 1992), Judith Butler (2003, 2004), Raewyn Connell (1996, 2015), Michel Foucault (2012) und Roland Barthes (1998). Für die Einsortierung einzelner Begriffe in die Kategorien haben wir außerdem auch Einführungen in die Gender Studies wie z.B. die von Schößler und Wille (2022) konsultiert, weil darin viele Beispiele enthalten sind. 

Das Annotationstraining

Die Annotationen aus dem Training werden an Annotationen gemessen, die unsere Projektleiterinnen Mareike Schumacher und / oder Marie Flüh zuvor erstellt haben. Die Übereinstimmung messen wir mit einem Inter-Annotator-Agreement. Ist der Wert ausreichend hoch, so können unsere Annotatorinnen (derzeit sind wir ein all-female-Team) damit beginnen, komplette Texte auf diese Weise auszuzeichnen. Bei Erzählungen und Novellen kann das sehr schnell gehen, bei Romanen sitzen wir schon einmal etwas länger. Dennoch ist es uns wichtig, komplette Texte zu annotieren, da in literarischen Texten mit ungewöhnlichen Gender-Darstellungen oft die Figurenentwicklung – also das gesamte Mosaik – von besonderer Bedeutung ist.

Der Goldstandard

Die Qualität unserer Annotationen ist uns sehr wichtig. Darum wird jeder Text bei uns von drei geschulten Annotatorinnen parallel annotiert. Aus diesen drei Annotations-Sätzen erstellen wir dann einen Goldstandard. Das machen wir, indem wir nur die Annotationen übernehmen, die von mindestens zwei unserer Annotatorinnen übereinstimmend gemacht wurden. Fälle, in denen alle drei uneinig sind, werden noch einmal gesondert geprüft. Entscheidend ist dabei immer, was in unseren Guidelines steht, denn die sind auf Basis der vorausgehenden Forschung in Gender Studies und Literaturwissenschaften erstellt worden und damit wissenschaftlich fundiert. Insgesamt ist dieser Prozess aufwändig, macht uns aber auch ziemlich viel Spaß. Schließlich können wir uns dabei intensiv mit Texten beschäftigen, die Gender in all seinen schimmernden Formen darstellen.  

Exkurs: Kann das nicht auch eine KI machen?

Derzeit in aller Munde, geht auch an uns die Entwicklung aktueller KI-Systeme natürlich nicht vorbei. Wir haben darum schon erste Tests gemacht, ob ein System wie ChatGPT nicht für uns die zeitintensive Annotationsarbeit übernehmen könnte. Leider ist die KI aber bei weitem noch nicht so präzise wie unser Team. Außerdem sind unsere Texte natürlich speziell, denn wir arbeiten viel mit Literatur, die 50, 150 oder sogar 200 Jahre alt und älter ist. Damit wir nicht nur einzelne Texte sehr präzise, sondern viele Texte im Vergleich betrachten können, nutzen wir aber unsere derzeit erstellten Annotationen, um mithilfe von Machine Learning selbst ein Tool zu trainieren, das in unseren Texten möglichst präzise Genderkategorien annotieren kann. Für die häufigen Kategorien ‘weiblich’, ‘neutral’ und ‘männlich’ klappt das schon ganz gut, aber für ‘divers’ brauchen wir noch eine ganze Menge Beispiele mehr anhand derer der Computer lernen kann, so gut zu annotieren wie unser Annotationsteam.

Schritt 2: Erstellen von Netzwerkdaten

Anhand unserer Goldstandards werden alle Referenzen (also: Genderrollen) mit den Figuren verknüpft, die sie bezeichnen. In den digitalen Geisteswissenschaften nennen wir das Entity Grounding: Für jede Genderrolle schauen wir, auf welche Entität, also welche Figur sie sich bezieht. Wir bereiten diese Daten so auf, dass die von uns eingesetzte Netzwerkanalyse-Software Gephi (Bastian et al. 2009) sie lesen und in ein Netzwerk umwandeln kann. Dieses Netzwerk zeigt dann auch, welche Figuren sich bestimmte Referenzen teilen und darüber eine Ähnlichkeit aufweisen. Werden z.B. zwei Figuren übereinstimmend als ‘Freundin’ bezeichnet, so verbindet sie das und lässt sie im Netzwerk etwas näher zueinander rücken. Da wir alle Referenzen für alle Figuren eines Textes in die Netzwerke integrieren, ergibt sich etwas, was wir die Gendersphäre eines Textes nennen. Es zeigt sich nämlich, ob es Pole oder Regionen im Netzwerk gibt, wo sich Figuren mit ähnlichen Genderprofilen ballen. Wenn ja, ist interessant, ob diese Pole weit auseinanderdriften. Tun sie das, so lassen sich unterschiedliche Genderkategorien klar voneinander abgrenzen. Ballt sich alles in der Mitte, so gibt es ein viel uneindeutigeres Gender-Gemisch.

Die Netzwerke können aber auch so gefiltert werden, dass nur das Profil einer einzelnen Figur angezeigt wird. Das so entstandene “Ego-Netzwerk” zeigt uns das Muster der Gender-Darstellung: Werden mehrheitlich Referenzen einer Kategorie genutzt, so ist die Figur meist klar einer Genderkategorie zuzuordnen, sind die Referenzen gemischter Art, so entsteht Diversität. Eine Sache, die uns dabei besonders interessiert, ist die Frage nach der Sollbruchstelle. Wann genau fängt eine Gender-Darstellung eigentlich an, ungewöhnlich zu werden? – Das ist eine der Hauptfragen, die uns umtreiben. 

Schritt 3: Abgleich unserer Einsichten mit anderen literaturwissenschaftlichen Ansätzen

Wir sind natürlich nicht die ersten, die sich mit Darstellungen von Gender auseinandersetzen. Das Thema ist sehr weit verbreitet und beliebt in den Literaturwissenschaften. Außerdem finden wir viele unserer Texte gerade deshalb, weil andere Literaturwissenschaftler:innen sie in einer anderen Studie als relevant für das Thema Gender-Darstellungen beschrieben haben. Was genau bestehende Untersuchungen zu den auch von uns betrachteten Texten sagen und wie das zu unseren datengetriebenen Analysen passt, das beschreiben wir jeweils am Ende eines Artikels unserer neuen Serie. So habt ihr eine umfassende Kurzbeschreibung zu zentralen Aspekten unserer Forschung für einzelne Texte: Von der Geschichte über die Genderprofile wichtiger Figuren und die Gendersphäre, die die Netzwerke zeigen, bis hin zur literaturwissenschaftlichen Einordnung. Natürlich gibt es am Ende jedes Artikels (genauso wie unter diesem) auch ein Verzeichnis der benutzten Literatur.

Die Artikel

Einmal monatlich werden wir künftig Artikel dieser neuen Blog-Serie veröffentlichen. Los geht es mit Balzacs Erzählung “Sarrasine”. Die Artikel werden dann nach und nach auch hier verzeichnet, damit sie schnell wiederzufinden sind. Natürlich freuen wir uns auch über Anregungen und Anmerkungen in den Kommentaren. 

Literatur

Barthes, R. (1998) S/Z. [Nachdr.]. Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft).

Bastian, M., Heymann, S. and Jacomy, M. (2009) ‘Gephi : An Open Source Software for Exploring and Manipulating Networks’, Third International ICWSM Conference, pp. 361–362.

Beauvoir, S. de (1949; 1992) Das andere Geschlecht Sitte und Sexus der Frau. Neuübers. Rowohlt-Taschenbuch-Verl. (Rororo: rororo-Sachbuch).

Butler, J. (2003) Das Unbehagen der Geschlechter. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp: Gender studies: Vom Unterschied der Geschlechter).

Butler, J. (2004) Undoing gender. Routledge.

Connell, R. (1996) Gender and power society, the person and sexual politics. Reprint. Cambridge: Polity Press [u.a.].

Connell, R. (2015) Der gemachte Mann Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 4. durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart: Springer VS (Geschlecht & Gesellschaft Band 8).

Foucault, M. et al. (eds) (2012) Über Hermaphrodismus: der Fall Barbin. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1733 = N.F., 733).

Ricoeur, P. (1987) ‘Narrative Identität’, in E. Mittler (ed.) Heidelberger Jahrbücher. Berlin, Heidelberg: Springer (Heidelberger Jahrbücher), pp. 57–67. Available at: https://doi.org/10.1007/978-3-642-71777-2_5.
Schössler, F. and Wille, L. (2022) Einführung in die Gender Studies. 2., aktualisierte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin ; Boston: De Gruyter (De Gruyter Studium).

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