m*w


Ein Beitrag zum CorpusContest von InFoDiTex und DiscourseLab Heidelberg
von
Marie Flüh und Mareike Schumacher

Kulturwissenschaftliche Phänomene wie Genderzuschreibungen und -stereotype sind immer häufiger Gegenstand der Digital Humanities (zuletzt z. B. in Underwood 2019, Underwood, Bamman und Lee 2018, Blevins et all. 2015 oder Agamon et all. 2009). Allerdings werden diese Studien häufig von nicht-digital arbeitenden Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen kritisiert (zuletzt z. B. von Da 2019). Alternativ und ergänzend zum Big-Data-Ansatz von Underwood, in dem “Gender” mit Hilfe von Vorhersagealgorithmen modelliert wird, wird hier ein Smart-Data-Ansatz (nach Schöch 2013) umgesetzt: Statt aus großen Datenmengen Modelle zu schlussfolgern, gehen wir theoriegeleitet der Frage nach, inwiefern Gender in der Literatur des 19. Jahrhunderts stereotyp dargestellt werden und welche Wertung mit der Stereotypisierung einhergeht. Alle Ergebnisse der Analyse werden auf der projekteigenen Webseite für ein breites Publikum zugänglich gemacht. Projektbegleitend findet das Seminar “Gender modellieren – Gender-Rollen und Stereotype in der Literatur des 19. Jahrhunderts” statt, in dem die Theorien und Methoden des Projektes reflektiert werden.

Zur Relevanz von m*w

In den Kulturwissenschaften wird derzeit selten korpusbasiert gearbeitet. Theorien zur Genderthematik sind häufig philosophisch (wie im Falle von Beauvoir), diskurstheoretisch (Foucault) oder dekonstruktivistisch (Butler) motiviert. Während grundlegende Einigkeit darüber herrscht, dass Genderzuschreibungen stereotyp (d. h. entsprechend einer männlich dominierten Heteronormativität) funktionieren, gibt es wenig Einsicht darin, wie sich Gender-Stereotype in kulturellen Gütern niederschlagen. Häufig wird eine positive Bewertung männlich konnotierter Attribute und eine Abwertung dessen, was als weiblich gilt, unterstellt.

Die Erforschung von Gefühlen und Emotionen männlicher und weiblicher Protagonisten literarischer Texte ist fester Bestandteil literaturwissenschaftlicher Arbeiten. Die wissenschaftlichen Perspektiven auf die Thematisierung und Präsentation von Emotionen in literarischen Texten soll durch unsere genderkomparatistisch angelegte Korpusanalyse erweitert werden. Hierbei steht – neben der Entwicklung eines textlinguistisch geprägten Analyseverfahrens zur Bestimmung des Emotionspotenzials literarischer Texte – die Erarbeitung einer Typologie der Gestaltung von Emotionen im Deutschen Novellenschatz und die Beantwortung der folgenden Fragen im Hintergrund: Welches Emotionspotenzial weist der Deutsche Novellenschatz auf? Welche Typen der sprachlichen Gestaltung von Emotionen (Gestaltung, Verbalisierung, Darstellung) finden sich? Welche unterschiedlichen textuellen Strategien der Bezugnahme auf Emotionen (Thematisierung/Präsentation) lassen sich identifizieren? Welche thematisierten und präsentierten Emotionen bestimmen den Deutschen Novellenschatz und in welchem Zusammenhang stehen sie zu männlichen und weiblichen Figuren? Da Emotionen immer auch Bewertungssysteme darstellen (vgl. Schwaz-Friesel 2017), nähern wir uns über die Emotionsanalyse der Frage nach der Bewertung von Gender in literarischen Texten.

Unser Vorgehen

Gegenstand der Untersuchung sind zwei Teilkorpora. Das erste Teilkorpus besteht aus den zehn Novellen des Novellenschatzes, die von Schriftstellerinnen geschrieben wurden, das zweite aus zehn beliebig ausgewählten Novellen männlicher Autoren. Ausgehend von theoretischen Texten zur Gendertheorie und zur literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung entwickeln wir ein im Sinne Morettis (2013) operationalisierbares Modell zur Analyse von Genderstereotypen und -bewertungen. Das Modell wird dann in der Untersuchung des Korpus mit Hilfe von Named Entity Recognition (NER) und digitaler Annotation angewandt:

1. NER

Mit Hilfe von NER werden die Figuren im Gesamtkorpus automatisch erkannt. Um eine angemessene Präzision der automatischen Erkennung zu erlangen, wird mit Hilfe eines Teilkorpus ein eigenes Modell trainiert.

2. Digitale Annotation mit CATMA

Das theoretische Modell für Genderstereotype und -bewertungen wird in ein Tagset übersetzt, mit Hilfe dessen im Annotationstool CATMA die 20 Novellen des Korpus annotiert werden. Die Genderstereotype werden im oben bereits erwähnten Begleitseminar des Projektes kollaborativ annotiert und ausgewertet.

3. Emotionsanalyse mit CATMA

Der Einfluss der in literarischen Texten explizit oder implizit “hinterlegten” Emotionsmanifestationen ist groß: Sie lösen intensive Gefühle bei der Leserschaft aus und bestimmen das Wirkungspotenzial literarischer Texte maßgeblich. Durch die Annotation sämtlicher emotionsvermittelnder Strukturen – also aller intersubjektiv erfassbaren textinternen Elemente, die Gefühle abbilden – soll das Emotionspotenzial (Schwarz-Friesel 2017) des Korpus bestimmt werden.

m*w – und weiter?

Das Projekt ist an mehreren Stellen anschlussfähig. Die im Projekt erstellten Annotationen werden so aufbereitet, dass sie z.B. im Fachbereich Computerlinguistik weitere Verwendung finden können. Auch die Annotationsguidelines werden auf der Projektwebseite veröffentlicht. Im Bereich der Emotionsanalyse wird ein von der computerlinguistischen Methode abweichendes Vorgehen erprobt, dass die digitale Analyse von Emotionen und Bewertungen in der Literatur vor allem theoretisch voranbringen kann. Das Projekt würde von Kooperationen mit der Informatik, insbesondere der Computerlinguistik, stark profitieren. In einer solchen Kooperation könnten Automatisierungspotentiale ausgelotet werden, die die Ergebnisse des Projektes auf andere Forschungsgegenstände übertragbar machen.

Literatur

Agamon, Schlomo, Cooney, Charles, Horton, Russell, Olsen, Mark, Stein, Sterling & Voyer, Robert (2009): Gender, Race and Nationality in Black Drama, 1915–2006: Minin Difference in Language Use in Authors and their Characters. Digital Humanities Quarterly (2009 3.2), http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/3/2/000043/000043.html [8.8.2019].

Beauvoir, Simone (1949): Das andere Geschlecht. Reinbek: Rowohlt.

Butler, Judith (2016): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Blevis, Cameron & Mullen, Lincoln (2015): Jane, John… Leslie? A Historical Method for Algorithmic Gender Prediction. Digital Humanities Quarterly (2015 9.3), http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/9/3/000223/000223.html [8.8.2019].

Da, Nan Z. (2019): The Digital Humanities Debacle. The Chronicle of Higher Education, https://www.chronicle.com/article/The-Digital-Humanities-Debacle/245986 [8.8.2019].

Foucault, Michel (2008a): Sexualität und Wahrheit. In: Michel Foucault. Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 

Foucault, Michel (2008b): Die Ordnung der Dinge. In: Michel Foucault. Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 

Moretti, Franco (2013): Operationalizing: or the function of measurement in modern literary theory. https://litlab.stanford.edu/LiteraryLabPamphlet6.pdf [8.8.2019]. 

Schöch, Christof (2013): Big? Smart? Clean? Messy? Data in the Humanities. Journal of Digital Humanities (2.3) http://journalofdigitalhumanities.org/2-3/big-smart-clean-messy-data-in-the-humanities/ [8.8.2019].

Schwarz-Friesel, Monika (2017): Das Emotionspotenzial literarischer Texte. In: Betten, Anne, Ulla Fix und  Berbeli Wanning (Hrsg): Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin, Boston: De Gruyter, 351–370.

Winko, Simone (2003): Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: Erich Schmidt.

Winko, Simone (1991): Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlage und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren. Wiesbaden: Vierweg.

Underwood, Ted (2019): Distant Horizons. Chicago: The University of Chicago Press.

Underwood, Ted, Bamman, David & Lee, Sabrina (2018): The Transformation of Gender in English-Language Fiction. Cultural Analytics (Feb 13 2018).